Im Namen der Bürger

Ein Jahrhundert nach der Schaffung der Goethe-Universität steht Frankfurt am Main wieder ein Gründungsakt seiner Bürger bevor: Die Entstehung des Kulturcampus. Zur wechselvollen Vorgeschichte  eines Modellquartiers.

Es gab Zweifel. Bestimmt wollte Hessens scheidender Finanzminister kurz vor seinem Abgang von der politischen Bühne etwas hinterlassen, was man auch künftig mit seinem Namen in Verbindung bringen würde. Gemeinsam mit Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth stellte der CDU-Politiker im Juni 2010 Pläne für einen Kulturcampus vor: Dort, wo die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität ihren Campus Bockenheim betreibt, soll nach dem kompletten Umzug der Hochschule auf den Campus Riedberg und den Campus Westend das Terrain der Kulturschaffenden entstehen. Die Bürger Frankfurts hatten das beinahe einhundert Jahre zuvor vorgemacht. Sie wussten schließlich, dass sie mit Berlin nicht würden rechnen können. Preußen finanzierte bereits die Humboldt-Universität an der Prachtstraße Unter den Linden. Für ein Hochschul-Vorhaben in Frankfurt am Main sollte es nicht auch noch Mittel geben. Die Frankfurter aber ließen sich von Berlin nicht entmutigen. Sie setzten damals selbst Zeichen und gründeten die Bürger-Universität, die an der heutigen Senckenberganlage von 1914 an entstanden ist.

Förderung des Nachwuchses

Einhundert Jahre später steht der Stadt ein weiterer Gründungsakt wohl vergleichbarer Dimension bevor: Die Schaffung des Kulturcampus Frankfurt. Auf dem Areal zwischen Gräfstraße und Senckenberganlage sollen künftig Tänzer, Musiker und andere Kulturschaffende ausgebildet werden. Auf dem neuen Campus finden sie neue Wirkungsstätten, um vor allem den Nachwuchs zu fördern. Politisch ist dieses Projekt im Grundsatz Konsens. Auch bei den Koalitionsgesprächen zwischen CDU und Grünen nach der Kommunalwahl 2011 hat sich im Frankfurter Rathaus deutlich gezeigt: Mit diesem Projekt, das man wegen seiner Bedeutung für die weitere Entwicklung der Stadt ruhig ein Jahrhundert-Projekt nennen darf, verbinden sich in der Kommunalpolitik große Erwartungen. Die Voraussetzungen dafür hat die von Oberbürgermeisterin Petra Roth geführte Stadtregierung gemeinsam mit Hessens Landesregierung geschaffen. Zusammen mit dem damaligen Finanzminister Karl-Heinz Weimar entwickelte das Stadtoberhaupt die Idee für den Kulturcampus und trug sie im vorigen Jahr der Öffentlichkeit vor: Auf dem Areal nördlich der Bockenheimer Landstraße soll perspektivisch die Musikhochschule ihren neuen Standort finden. Deren Präsident Thomas Rietschel, der unbedingt ein größeres Quartier für seine renommierten Ausbildungsgänge sucht, lässt keinen Zweifel daran aufkommen: Seine Hochschule braucht über die künftige Nutzung des heutigen Standorts der Universitätsbibliothek hinaus noch weitere Flächen auf dem neuen Kulturcampus. Am liebsten würden die ersten Musikhochschüler schon alsbald in das Studierendenhaus einziehen. Doch das bleibt vorerst Zukunftsmusik. Denn neben den Musikhochschülern will auch das Ensemble Moderne auf dem Kulturcampus Räume finden, melden die Tänzer von William Forsythes Ensemble Ansprüche an, wollen die Schauspieler von Heiner Goebbels in Bockenheim dabei sein.

Der Kulturcampus Frankfurt: Ein Ort für alle

Der Kulturcampus wird den Stadtteil Bockenheim aufwerten und die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen der gesamten Stadt vitalisieren. Trotzdem ist der Kulturcampus kein Luxusobjekt. Er ist kein Projekt privater Investoren, sondern ein langfristiges Projekt der Stadt Frankfurt zur strategischen Stadtentwicklung im globalen Wettbewerb. Dazu ist ein Austausch mit den Frankfurter Bürgerinnen und Bürgern in Dialogveranstaltungen und Planungswerkstätten geplant. Gestalterische Leitlinien der Planungswerkstätten sind eine nachhaltige Wohnstruktur, kommunikationsfördernde Architektur und kreative Vernetzung. Die Kulturinstitutionen sollen dabei die prägende Funktion der Universität ersetzen und identitätsstiftend wirken. Der Kulturcampus soll ein Ort der Kunst werden, aber kein künstliches Stadtviertel. Er ist ein Ort für alle. Er soll moderne Wohnraumgestaltung verwirklichen ohne aufgesetzt zu wirken. Er soll den Charakter Bockenheims bereichern ohne ihn zu verfremden. Er soll ein Ort werden, der „Fantasie, und Lebendigkeit, Gestaltungswille und Schöpfergeist, kritische Reflexion, Mut zum Träumen, aber auch Realismus und Wissen um das Machbare vereint“, wie es Thomas Rietschel, der Präsident der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, beschreibt.

Was sein soll

Einen Vorgeschmack auf das, was künftig in Bockenheim zu erwarten ist, vermittelt vom Frühjahr 2012 an das Programm, das in einer Infobox auf dem Campus zu sehen sein soll: Musiker und Schauspieler verschaffen dort einen Eindruck von ihrer Arbeit, gleichzeitig unterrichtet die Stadt ihre Bürger über das, was städtebaulich unter der Regie der ABG Frankfurt Holding und gemeinsam mit privaten Partnern in den kommenden Jahren entstehen soll. Denn dabei sollen die Frankfurter mitreden. Nach den überaus guten Erfahrungen, die Oberbürgermeisterin Petra Roth zuletzt mit den insgesamt fünf Planungswerkstätten für die Sanierung des Höchster Bolongaro-Palastes gemacht hat, setzt sie wieder auf diese Möglichkeit der politischen Partizipation – und zwar der frühzeitigen Partizipation: Bevor die Pläne für den Kulturcampus fertig sind, können Bürger ihre eigenen Vorstellungen kundtun und sich im Sinne der Allgemeinheit an der Ideensammlung beteiligen. Um dieses Vorhaben angehen zu können, haben die städtische ABG und Hessens Finanzministerium die Voraussetzungen geschaffen: Geschäftsführer Frank Junker und Minister Thomas Schäfer, Weimars Nachfolger, schlossen einen Vertrag über den Verkauf des Areals auf der Grenze zwischen dem Westend und Bockenheim. Sie konnten auf einen Letter of Intend zurückgreifen, den Petra Roth wenige Monate zuvor gemeinsam mit Schäfer und Junker unterzeichnet hatten. Darin vereinbarten die Parteien, den Gutachterausschuss in Frankfurt eine Summe für den Kauf der Flächen festsetzen zu lassen, an den sich dann beide Parteien gebunden sahen. Von dieser Fläche ausgenommen sind allein die Gebäude, die zu „Senckenberg“ gehören: Wenn der Sanierungsprozess der Museums- und Forschungseinrichtung wie geplant bis zum Jahr 2017 abgeschlossen ist, sollen weite Teile des neuen Campus ebenfalls bereits fertig sein.

Start an der Gräfstrasse

Ein Anfang ließe sich entlang der Gräfstraße machen. Dort zeigt sich künftig, dass die Bezeichnung „Kulturcampus“ für das Quartier nur ein Teil der Wahrheit ist. Gleichzeitig will die Oberbürgermeisterin gemeinsam mit der ABG Wohnraum schaffen und ausprobieren, wie das Zusammenleben mehrerer Generationen im Zeichen des demografischen Wandels gelingen kann. Auch darüber wird bei den Planungswerkstätten zu reden sein. Der neue Campus soll ein Ort sein, den Kulturschaffende und Kulturfreunde gemeinsam nutzen. Ein Ort, der über die Grenzen der Stadt hinaus Wirkung entfaltet. Vor allem aber ein Ort, den Bürger Frankfurts mit ihrer Stadt nicht anders als das Museumsufer in Verbindung bringen. Deswegen ist es gut, dass sich Stiftungen an dem Jahrhundert-Projekt beteiligen wollen. Zusammen mit der Stadt unterstützen sie auch die Infobox, für die ein Freundeskreis der beteiligten Kulturinstitutionen bereits Ideen ins Spiel gebracht hat. Unter diesen Vorzeichen steht es nicht schlecht um das große Vorhaben für die weitere Entwicklung der Stadt.